Im Kern sind wir alle gleich, das ist keine Frage. Wir alle sind Menschen, sehnen uns nach Verständnis, Liebe und Sicherheit, müssen auf's Klo und brauchen Schlaf. Dennoch lebt jeder einzelne von uns in seiner ganz eigenen, kleinen Welt und sieht die Dinge durch eine Filterbrille, die all die persönlichen, einzelnen Erfahrungen unseres Lebens geschaffen haben. Um das zu verdeutlichen hier ein persönliches Beispiel:
Ich bin in Deutschland aufgewachsen. Hier ist es normal, dass man morgens aufsteht, zur Schule/Uni/Arbeit geht, dass man vor dem Verlassen des Hauses etwas frühstückt und nicht gesteinigt wird, wenn man Sex vor der Ehe hat. So ist das bei uns und natürlich weiß ich, dass in Afrika ganz andere Zustände herrschen und dass Kinder in Bangladesch für einen Hungerlohn unsere H&M Klamotten nähen müssen. Mir ist das alles sehr deutlich bewusst, aber lasse ich es auch wirklich an mich heran? Mit Gefühlen und so?
Als ich 2017 mit Pimkie auf einer Presse-Reise in Barcelona war und unsere Gruppe aus Bloggern verschiedener Nationen bestand, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie sehr wir Deutschen uns eigentlich stressen (mehr dazu in diesem Post).
Nach dem Strandbesuch habe ich im Bus bereits ausgerechnet, wie lange ich brauchen werde um zu duschen, mich zu schminken, meine Haare zu machen etc. um die anderen anschließend pünktlich zum Dinner unten in der Lobby zu treffen. Das hat mich unruhig gemacht und mich die ganze Zeit irgendwie unter Druck gesetzt. Ich hetzte, verzichtete auf Lidschatten und Concealer, telefonierte nicht mehr mit meinem Freund, beantwortete keine Instagram Kommentare und stand 3 Minuten zu früh bereit am Treffpunkt. Auf mich wartete die deutsche PR Beauftragte von Pimkie und 2 Minuten später erschienen die 2 anderen deutschen Bloggerinnen.
Dann warteten wir. Wir warteten mindestens 30 Minuten bis die Italienerinnen kamen, dann irgendwann die Spanierinnen und die Französinnen ließen sich am meisten Zeit.

Natürlich, die Deutschen und ihre Pünktlichkeit, scherzten wir und nahmen das mit einem Schmunzeln hin. Im Laufe des Abends dachte ich intensiver darüber nach. Mir fiel auf, dass sich dieses Phänomen durch die gesamte Reise gezogen hatte. Unsere deutsche Gruppe war immer einen Schritt voraus - im wahrsten Sinne des Wortes. Wir beeilten uns am Strand, beim Essen, beim Shooten und generell überall hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, mich beeilen zu müssen. Das lag aber nicht an Barcelona, denn das gleiche Problem habe ich zu Hause.
Auch wenn ich mit meinem Hund Gassi gehe oder etwas bei der Post abhole. Klar, eine simple Angewohnheit, verankert in den Wurzeln meiner Nationalität...
Aber dann sehe ich vor mir die anderen Mädels, die lachen, unbeschwert sind und sich nicht sonderlich den Kopf darüber zerbrechen, ob wir auf sie gewartet und uns abgehetzt hatten oder nicht. Wie entspannt muss deren Leben sein? Machen die das immer so und wie reagiert ihr Arbeitgeber, wenn sie zu spät dran sind? Was denken sie, während sie andere auf sich warten lassen und wieso zur Hölle können sie morgens alle getrost auf das Frühstück verzichten? Ist alles so richtig, wie ich es mache oder tu ich all das nur aus Gewohnheit??
Tu ich nicht alles, was ich tu, aus Gewohnheit??
!! Das war jetzt ein sehr unbedeutende, banales Beispiel, dessen Prinzip sich aber auf unser ganzes Leben übertragen lässt !!
Im Grunde ist es piepegal, wie lange ich warte, ob ich mich selbst stresse oder ob die Franzosen einfach nur rücksichtslos sind.
Aber ist es auch egal, dass das Mädchen in meinem Alter im Staat XY kein Wahlrecht hat? Ist es egal, dass die Kids in Bangladesch für meine Jeans schuften müssen? Natürlich ist es das nicht, denken wir uns alle sofort. Aber wir verdrängen das Gefühl, das wir HÄTTEN, wenn wir vor ihnen stehen und ihnen dabei zusehen müssten. Wir können nicht verstehen, warum sie nichts an ihrer Situation ändern, denn so ein Leben wäre für uns undenkbar.
Wir gehen davon aus, dass alles schon okay so ist, wie wir es machen.
Wie wir jeden Tag frühstücken, wie wir Prostitution legalisieren und Cannabis verbieten, wie wir die CDU tolerieren und die AfD kritisieren, wie wir Druck von unseren Eltern bekommen einen Uniabschluss zu machen, wie wir unsere Wohnung sauber halten und immer an unseren Nächsten denken - ich könnte ewig so weitermachen...
Wir kommen gut durch, zählen zur weltwirtschaftlichen Elite und leben schon sehr lange so, also muss es im Großen und Ganzen richtig sein. Dass die letzten hinterbliebenen Familien in Aleppo nicht flüchten oder die Amerikaner Trump wählen, verstehen wir nicht, aber das müssen wir ja auch nicht. In unserer Welt ist nämlich alles in Ordnung so, wie es ist.
Nur wer über den Tellerrand schaut, dem fällt auf, dass es eine Realität außerhalb der eigenen Filterbrille gibt. Ein ganzer Kosmos, der so groß, so unergründlich und so voll von Überraschungen ist, dass 100 Leben nicht ausreichen würden, um ihn zu verstehen. Wir können uns lediglich Mühe geben, so viele Erfahrungen zu machen wie möglich, alles in uns aufzusaugen und zu versuchen, die anderen zu verstehen.
Zuerst die Menschen in unserem Umfeld, dann die in anderen Städten, anderen Ländern, anderen Kontinenten. Je weiter wir uns von unserem Heimatort entfernen, desto exotischer die Erfahrung und demnach größer auch der Lerneffekt für uns selbst.
Wir sollten versuchen zu verstehen, warum andere so sind, warum sie etwas tun und nicht davon ausgehen, dass unsere Sicht der Dinge die richtige ist. Auch wenn es in unserer Realität danach aussieht. Wer genau hinsieht, wird feststellen, dass andere Menschen gar nicht unbedingt blöd, verrückt oder böse sind. Meist haben sie gute Gründe für das, was sie tun, auch wenn es nach außen hin noch so absurd wirkt.
Je mehr ich mein eigenes Denken und Fühlen reflektiere und je mehr ich mich mit anderen Menschen und Gegebenheiten auseinandersetze, desto mehr finde ich letzten Endes zu mir selbst.
Das kann sehr schwer sein und sehr unangenehm und dem ein oder anderen zunächst den Boden unter den Füßen wegziehen. Aber am Ende können wir auf dieser Welt doch nur weiterkommen wenn wir die Dinge so sehen, wie sie sind. So gut und so schlecht wie sie sind und nicht so, wie unsere Erfahrung uns sagt, dass sie sein müssten oder wir sie gerne hätten.
Oh Gott mein Text liest sich wahrscheinlich ungefähr so angenehm wie einer von Aristoteles (nicht dass ich mich jemals mit ihm vergleichen würde) 😀
Tut mir Leid Leute, aber das zu sagen lag mir so am Herzen und bereitet mir so viel Kopfzerbrechen, dass es raus musste. Ich erwarte nicht, dass jeder von euch versteht, was ich damit sagen wollte, aber ich würde mich sehr freuen, wenn ihr eure Meinung dazu preisgeben würdet.
x Franzi